Gewichtsdiskriminierung: ein Akt von Gruppenmoral?

Zitat-Dr-med-Gunter-FrankWir setzen unsere Interviewserie zum Abschlussbericht der von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) in Auftrag gegebenen Studie “Diskriminierungsserfahrungen in Deutschland” fort. In Woche 2 haben wir mit Dr. med. Gunter Frank, Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, gesprochen.
Laut Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) wurden 634 Fälle von Gewichtsdiskriminierung geschildert. Hat Sie diese hohe Zahl überrascht, insbesondere weil ja nicht direkt nach Gewicht gefragt wurde?
Ich höre in meiner Sprechstunde von Patienten wöchentlich mehrere Schilderungen krasser und bösartiger Diskriminierungen gegenüber dicken Menschen. Insofern überrascht mich auf diesem Gebiet gar nichts. „Gewichtsdiskriminierung: ein Akt von Gruppenmoral?“ weiterlesen

Dicke Menschen: die letzte Gruppe, über die ungestraft Witze gemacht werden dürfen?

Diese Frage beschäftigt die Neue Osnabrücker Zeitung, die den Blick auf die 643 Fälle von erlebter Gewichtsdiskriminierung richtet, die sich im Abschlussbericht der Studie “Diskriminierungserfahrungen in Deutschland” finden. Die Studie wurde von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) beauftragt und vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) durchgeführt. Sie basiert auf einer telefonisch erfolgten Repräsentativbefragung mit 1007 Teilnehmer*innen und einer Online-Befragung mit 18.162 Teilnehmer*innen.
Viele Verbände haben seinerzeit ihre Mitglieder dazu aufgefordert an der Online-Befragung teilzunehmen, so auch die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung im Rahmen der Kampagne “Deine Stimme hat Gewicht”. Im Fragebogen mussten die Teilnehmer*innen ihre Diskriminierungserfahrung einer Kategorie zuordnen. Als Vorgaben standen die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgeführten Merkmale und die soziale Lage zur Verfügung, weshalb wir in unserer Kampagne gezielt auf den Punkt “Sonstiges, und zwar” hingewiesen haben. Da die Studie nicht auf die Nennung von Diskriminierungserfahrungen anhand von Gewicht ausgelegt war, ist es äußerst bemerkenswert, dass 634 Fälle zusammengekommen sind.

„Iss mal weniger.“ ist einfach anmaßend

Die FAZ hat unser Beiratsmitglied, Prof. Dr. Lotte Rose, interviewt. Als Erziehungswissenschaftlerin richtet sich ihr Blick vor allem darauf, wie unsere Gesellschaft mit dicken Menschen umgeht und welche Auswirkungen das hat. Ihr Forschungsziel deckt sich dabei mit dem der Fat Studies in den USA: “Erkenntnisse [zu] produzieren, die helfen, die Diskriminierung einer gesellschaftlichen Gruppe perspektivisch zu beheben.” Dieser Ansatz ist im deutschen Forschungsfeld deutlich unterrepräsentiert. Um so wichtiger ist es, die Aktiven zu vernetzen und ihnen eine Stimme zu geben. Der von ihr zusammen mit Dr. Friedrich Schorb herausgegebene und in diesem Jahr erschienene Sammelband “Fat Studies in Deutschland” war in diesem Zusammenhang ein Meilenstein, an dem auch die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung mitwirken durfte.

Fat Studies in Deutschland – Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung

Cover Fat Studies DeutschlandNeuer Lesestoff fürs Bücherregal: Im BELTZ Verlag ist der Titel “Fat Studies in Deutschland – Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung” erschienen. Wir freuen uns sehr, dass die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung die folgenden drei Artikel zum Buch beitragen durfte:
Dickenaktivismus in Deutschland.
Die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V.
Stephanie von Liebenstein
Über die gesellschaftliche Undenkbarkeit von Fat Sex und die Lust am dicken Körper
Natalie Rosenke „Fat Studies in Deutschland – Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung“ weiterlesen

Gewichtsdiskriminierende Gesundheitskampagnen gefährden ihre Gesundheit

Seit Jahren werden Studien veröffentlicht, die zeigen, dass Gewichtsdiskriminierung ein unabhängiges Gesundheitsrisiko ist, das zu Essstörungen und zu psychischen wie physischen Stressreaktionen führen kann. Ein Review über diverse Studien der letzten vier Jahre bestätigt das jetzt und zeigt zudem, dass viele Public Health-Kampagnen zur Gewichtsreduktion Gewichtsdiskriminierung noch verschärfen. „Gewichtsdiskriminierende Gesundheitskampagnen gefährden ihre Gesundheit“ weiterlesen

Drei von vier US-Amerikaner_innen unterstützen gesetzliche Maßnahmen gegen Gewichtsdiskriminierung

Befragten in den USA wurden in einer Studie drei fiktive Gesetzesvorhaben vorgelegt, die dicke Menschen vor Diskriminierung schützen sollen. Über 70 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, dass dicke Menschen denselben juristischen Schutz und dieselben Leistungen erhalten sollten wie Behinderte. Mehr als Dreiviertel der Befragten forderten die Einbeziehung von Gewichtsdiskriminierung in die Bürgerrechte (civil right laws). Und fast 80 Prozent sprachen sich für Maßnahmen gegen die Diskriminierung dicker Menschen am Arbeitsmarkt aus. Der Anteil der Befragten, die sich für Antidiskriminierungsmaßnahmen aussprachen, stiegt zwischen 2012 und 2015 um mehr als sieben Prozent. „Drei von vier US-Amerikaner_innen unterstützen gesetzliche Maßnahmen gegen Gewichtsdiskriminierung“ weiterlesen

Bald bessere Chancen für dicke Bewerber*innen bei Siemens?

Bisher verschlechtert das Bewerbungs-Foto vor allem für dicke Frauen die Aussicht auf Erfolg. Eine Studie der Universität Tübingen konnte belegen, dass Personalverantwortliche ihnen gegenüber starke Vorbehalte haben, da sie deutlich seltener für ein Bewerbungsgespräch ausgewählt wurden. Bei Siemens könnte Körpergewicht in dieser Phase der Bewerbung bald zum irrelevanten Faktor werden, denn das Unternehmen denkt darüber nach, das Bewerbungs-Foto abzuschaffen.
Zum Artikel der FAZ
Siemens erwägt Verzicht auf Bewerbungs-Fotos

Abwertende Blicke schmerzen mehr als zu enge Sitze

Eine Studie der Ben-Gurion Universität von Negev (BGU) hat ergeben, dass dicke Fluggäste die Reaktionen der Mitreisenden auf sie deutlich negativer wahrnehmen als schmale Sitze oder die Notwendigkeit, nach einer Gurtverlängerung fragen zu müssen. Da für die Studie nur 24 Personen befragt wurden, stellt sie eher eine Stichprobe dar, deren Ergebnis sich aber durchaus in das Bild des empfundenen Stigmas fügt, das andere Studien zeichnen.

Kanada diskutiert: Ist Gewicht ein Merkmal, das unter Schutz gestellt werden sollte?

Die Frage, ob Gewicht ein Merkmal ist, das ins Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen werden sollte, wird Teil der politischen Diskussion in Kanada. Jill Andrew, Mitbegründerin der Body Confidence Canada Awards, wird am Mittwoch dazu von einem Mitglied der Human Rights Commisson von Ontario angehört werden. “Die vielen sozialen und kulturellen Klischees, die unberechtigter Weise mit dem Dicksein verbunden werden – wie faul, unintelligent oder leistungsschwach zu sein – haben dazu geführt, dass Arbeitgeber potentielle Arbeitnehmer*Innen oder solche mit Aufstiegswunsch diskriminieren.” so Andrew. „Kanada diskutiert: Ist Gewicht ein Merkmal, das unter Schutz gestellt werden sollte?“ weiterlesen

Diskriminierungserfahrungen in Deutschland: Das äußere Erscheinungsbild ist klar ein Faktor

2016-04-19_Flyer_ADSDiskriminierte Gruppen, die nicht vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erfasst werden, haben bisher wenig Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Der rechtliche Weg über das AGG scheitert und Organisationen wie die GgG, die sich für die Rechte dicker Menschen stark machen, haben keinen Zugang zu den Fördermitteln, die an das Antidiskriminierungsgesetz gekoppelt sind.
Vor diesem Hintergrund kann die groß angelegte Bevölkerungsbefragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2015 ein Türöffner sein, weshalb wir im vergangenen Jahr mit der Aktion Deine Stimme hat Gewicht zur Teilnahme aufgerufen hatten.
Aus der Zusammenfassung der ersten Ergebnisse geht hervor, dass allein 8,2 Prozent der 1007 Teilnehmer*innen der telefonisch durchgeführten Repräsentativbefragung die Fragebogen-Option “Sonstiges” genutzt haben, um eine eigene Diskriminierungserfahrung anzuführen, die nicht Teil der im AGG aufgeführten Schutzgründe ist oder dem Faktor sozioökonomische Lage zugeordnet werden konnte. Das äußere Erscheinungsbild, unter dem Merkmale wie, Gewicht, Körpergröße und Tätowierungen vorerst zusammengefasst wurden, scheint in auffallender Häufigkeit angegeben worden zu sein, da es im Zwischenbericht bereits eine erste Erwähnung findet. Eine genaue Aufschlüsselung wird allerdings erst im Verlauf der weiteren Auswertung zur Verfügung stehen.
Die parallel durchgeführte Online-Befragung mit 18.162 Teilnehmer*innen, in der persönliche Diskriminierungserfahrungen geschildert werden konnten, unterstreicht die negativen psychischen Folgen einer als Diskriminierung wahrgenommenen Situation: 45,9 Prozent gaben an, dass es sie belastet hat, dass sie immer wieder an die als Diskriminierung empfundene Situation denken mussten, und 39,2 Prozent sagten von sich selbst, dass sie misstrauischer geworden sind. Ein Diskriminierungserleben kann folglich das Stresslevel sowohl deutlich als auch dauerhaft erhöhen und hat zersetzende Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt. Die bisherige Auswertung der Betroffenenbefragung gibt noch keinen Hinweis darauf, in welchem Umfang hier unter “Anderes, und zwar …” Merkmale genannt wurden, die das äußere Erscheinungsbild betreffen.
[Update] Laut Tagesspiegel wird die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) das Merkmal Gewicht gesondert betrachten und womöglich sogar in den Fokus rücken. “Weitere Kriterien müssen in das AGG aufgenommen werden.” so die Leiterin Christine Lüders, “Auch die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft sollte verboten werden. Über das Gewicht denken wir ebenfalls nach.”
Handout der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Diskriminierungserfahrungen in Deutschland
Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung