Dünne Datenlage für dicken Risikofaktor

Verlauf von Covid-19: Risikofaktor Übergewicht“ so titelte SPIEGEL Online (SPON) am 11. Mai. Wir haben dazu mit Dr. Friedrich Schorb gesprochen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Health der Universität Bremen und Mitglied im Beirat der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.

Anfang der Woche war auf SPIEGEL Online zu lesen, dass ein hohes Gewicht ein Risikofaktor für einen schweren Verlauf von Covid-19 sein soll. Worauf basiert diese Aussage?

Im Wesentlich auf zwei Studien, einer aus New York, einer aus Großbritannien. Die erste Studie hat überprüft, wie viele Menschen, die positiv auf den COVID-19-Virus getestet wurden, zur Behandlung ins Krankenhaus eingewiesen wurden. Die zweite Studie aus Großbritannien hat untersucht, wie hoch die Überlebenswahrscheinlichkeit von COVID-19-Patienten in Intensivbehandlung war. Zudem wurde noch eine Studie aus Frankreich erwähnt, die aber wenig aussagekräftig ist, weil sie sich nur auf ein Behandlungszentrum bezieht.

In den ersten Studien zu COVID-19 wurde ein höheres Risiko für Männer festgestellt, was damals damit erklärt wurde, dass in Asien kulturell bedingt vor allem Männer rauchen. Diese Herleitung steht inzwischen in Frage, aber sie zeigt, dass die Eigenheiten einer Region bei der Einordnung der Ergebnisse eine Rolle spielen. Wie sehen Sie das bei der Studie aus New York?

Die Studie aus New York hatte zum Ergebnis, dass Menschen, die positiv auf Corona getestet wurden und einen BMI größer 40 haben, ein um den Faktor 6 erhöhtes Risiko tragen, wegen ihrer  Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden zu müssen als Menschen mit “Normalgewicht“. Faktor 6 klingt erst mal viel, aber im Vergleich zum Faktor 66, der angibt wie stark die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass Menschen, die 75 Jahre oder älter sind, aufgrund ihrer  Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden müssen, ist der Risikofaktor hohes Körpergewicht relativ gering.

Hinzukommt: Die Studie kontrolliert nicht die soziale Herkunft der Patient*innen mit einem BMI größer 40. Dabei wissen wir, dass Menschen aus Haushalten mit geringem Einkommen deutlich öfter einen hohen BMI haben. Das gilt für die Bevölkerung insgesamt, aber besonders für Städte wie New York, in denen ein niedriges Körpergewicht häufig eine Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg ist und Sozialstatus, Wohnort und Körpergewicht deshalb besonders stark zusammenhängen. 

Aus New York gibt es zudem umfangreiche Daten über die Betroffenheit und die Sterblichkeit in Folge von COVID-19. Dabei zeigt sich, dass diese in ärmeren Stadtteilen deutlich höher liegt als in reicheren Stadtteilen. Schon vor Corona betrugen die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den New Yorker Stadtteilen mehr als zwanzig Jahre. Durch die Corona-Pandemie verschärft sich dieses Problem, insbesondere auch deswegen, weil viele ärmere US-Amerikaner*innen über keine oder nur eine unzureichende Krankenversicherung verfügen. Menschen ohne hinreichende Krankenversicherung suchen das Gesundheitssystem seltener auf bzw. erst dann, wenn die Symptome schon weit fortgeschritten sind. Auch dies erklärt, warum Menschen aus sozial benachteiligten Haushalten mit Corona-Infektion häufiger im Krankenhaus behandelt werden müssen. Und auch unter dieser Bevölkerungsgruppe sind Menschen mit einem hohen Körpergewicht überrepräsentiert. Bei dicken Menschen kommt noch ein anderer Faktor hinzu. Sie meiden häufig Kontakte mit dem Gesundheitssystem aus Angst vor Diskriminierung.

Wie steht es um die Studie aus Großbritannien: Werden hier die von Ihnen genannten Faktoren zur Einordnung der Ergebnisse herangezogen?

Die im Spiegel-Artikel erwähnte Studie aus Großbritannien befasste sich mit der Überlebenswahrscheinlichkeit von Menschen, die mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt wurden. Die Sterblichkeit aufgrund einer Corona-Infektion ist dieser Studie zufolge für Menschen mit einem BMI größer 30 um den um Faktor 1,37 (also 37 Prozent) gegenüber Menschen mit “Normalgewicht“ erhöht. Hingegen erhöht ein Lebensalter von über 80 Jahren die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufs gegenüber Menschen, die jünger als 50 Jahre sind um den Faktor 13,59, für Menschen zwischen 70 und 79 Jahren liegt dieser Wert bei 9,59 und für Menschen im Alter von 50-69 Jahren immer noch bei 4,02. Auch hier zeigt sich, dass das Körpergewicht im Vergleich zum Alter eine vernachlässigbare Größe ist, zumal auch hier die Gruppe der Hochgewichtigen nicht für den Faktor soziale Herkunft kontrolliert wurde, was eine Verzerrung (unter den Hochgewichtigen sind sozial Benachteiligte überrepräsentiert) wahrscheinlich macht.

Der Titel “Verlauf von Covid-19: Risikofaktor Übergewicht“ ist bereits eine Falschmeldung, weil “Übergewicht“ gemäß WHO einen BMI von 25 bis < 30 beschreibt, um den es im Artikel gar nicht geht. Aber davon unabhängig: Wie sehen Sie solche Überschriften? 

Es ist wichtig, dass solche Berichte und Studien nicht unwidersprochen bleiben bzw. in ihren Kontext eingeordnet werden. Angesichts knapper werdender Ressourcen im Gesundheitswesen und besonders angesichts der Diskussion um die Triage, also das Rationieren von Behandlungen bei akuter Knappheit von Ressourcen in Abhängigkeit der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patient*innen, kann der Eindruck, hochgewichtige Menschen hätten schlechtere Überlebenschancen, zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, wenn eben diese Menschen dann aufgrund fragwürdiger Statistiken tatsächlich nicht behandelt werden.

Das Robert Koch Institut (RKI) weist “stark adipöse Menschen“ inzwischen als Risikogruppe aus. Artikel wie der von SPIEGEL Online festigen dieses Bild in der Bevölkerung. Welche Konsequenzen hat das für hochgewichtige Menschen in Deutschland?

Bislang gibt es noch keine offiziellen Konsequenzen: Anders als in Frankreich, wo Menschen mit hohem Körpergewicht nahe gelegt wird zuhause zu bleiben, gibt es solche Empfehlungen für Deutschland nicht. Aber die Diskussion trägt natürlich stark zur Stigmatisierung dicker Menschen bei. Für Deutschland liegen bislang auch keine Statistiken vor, die eine stärkere Betroffenheit oder Sterblichkeit von COVID-19 bei dicken Menschen nahelegen würden. Dicke Menschen dazu aufzufordern, sich selbst zu isolieren, ist problematisch, weil Isolation selbst zu sozialen Problemen beiträgt.