Gewichtsdiskriminierung im Namen der Prävention

“Medizinische Forschung unterliegt ethischen Standards, die die Achtung vor den Menschen fördern und sicherstellen und ihre Gesundheit und Rechte schützen.” so hat es der Weltärztebund (WMA) in §7 der Deklaration von Helsinki “Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen” festgelegt. Dieser Grundsatz legt nahe, dass medizinische Forschung mit dem Ziel oder dem vorhersehbaren Effekt der Diskriminierung als unethisch zu betrachten ist. Leider stellt dieser Grundsatz für andere an der medizinischen Forschung Beteiligte nur eine Anregung dar. Eine Anregung, die von der Southern Illinois University Edwardsville und der Cornell University offensichtlich als zu vernachlässigen eingestuft wurde.
So befasste sich Anfang des Jahres ein Forscherteam mit der Frage, ob die Anwesenheit einer hochgewichtigen Person das Essverhalten von (aus medizinischer Sicht) normalgewichtigen Personen negativ beeinflusst und ob das Essverhalten der hochgewichtigen Person hierbei eine Rolle spielt.
Für die Studie mit dem Titel “In guter Gesellschaft. Die Auswirkungen der körperlichen Erscheinung der Begleitung auf die Nahrungsaufnahme” [1] wurden 40 weibliche und 42 männliche Studenten dazu aufgefordert, sich von einem Buffet eine Kombination aus Pasta und Salat zusammenzustellen und zu verzehren, wobei die Pasta später als ungesunde (negative) und der Salat als gesunde (positive) Wahl von der Forschergruppe gewertet wurde. Eine Schauspielerin übernahm mit Hilfe eines Fatsuits die Rolle der hochgewichtigen Person und ging als erste ans Buffet. In einem der Testläufe aß sie wesentlich mehr Salat als Pasta, in einem anderen machte sie es umgekehrt.
Sie machte dabei u.a. mit der Frage, ob für die Pasta und den Salat unterschiedliche Teller vorgesehen sind, auf sich aufmerksam und platzierte sich so, dass sie auf dem Weg zum Buffet im Sichtfeld saß. Mit verschiedenen Aktionen wie z.B. dem Fallenlassen einer Gabel zog sie zudem immer wieder die Blicke auf sich.
Das Ergebnis:

  • Unabhängig davon, für welche Verteilung sich die Schauspielerin entschied, nahmen und aßen die TeilnehmerInnen mehr Pasta, wenn sie den Fatsuit trug.
  • Nahm die Schauspielerin im Fatsuit mehr Salat, so nahmen und aßen die TeilnehmerInnen weniger Salat.

Die Ursache hierfür zu ermitteln, war nicht Ziel der Studie. So blieb das Fazit des Forscherteams entsprechend vage: Das Ergebnis “spreche für die Hypothese des ‘geringeren gesundheitlichen Verpflichtungsempfindens’. Ihr liegt die Annahme zu Grunde, dass die TeilnehmerInnen in Begleitung einer hochgewichtigen Person mehr Pasta zu sich nehmen würden, weil sie sich dann den eigenen Gesundheitszielen weniger verpflichtet fühlen.” Aufgrund der Defizite der Versuchsanordnung kann man diese Hypothese indessen kaum als bestätigt betrachten:

  • 82 Personen sind eine sehr kleine Testgruppe.
  • Das Altersspektrum der TeilnehmerInnen war gering (StudentInnen).
  • Ob das Ergebnis abhängig vom Kulturkreis ist, wurde nicht geprüft.
  • Die Auswahl des Buffets war stark eingeschränkt.
  • Den TeilnehmerInnen war bewusst, dass ihr Essverhalten beobachtet wird.
  • Die Menge an Käse und Dressing wurde nicht berücksichtigt.

Problematischer ist ohnehin, worauf sich der Forschungsdrang hier richtet und wofür er somit instrumentalisiert werden kann. “Dicke Freunde zu haben macht verfressen” titelten Daily und Sunday Express, auf die “Gefahr durch Essen mit übergewichtiger Begleitung” machte The Week aufmerksam. Wo wurde hier “die Achtung vor den Menschen” gefördert und sichergestellt? Was ist davon zu halten, wenn zum Zwecke der Prävention erforscht wird, ob die bloße Anwesenheit von Menschen mit einem bestimmten Körpermerkmal vermeintlich negative Auswirkungen auf alle anderen hat?
Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, die TeilnehmerInnen würden den selben Versuchsaufbau als Gegenprobe mit einer Schwangeren durchlaufen – mit ähnlichem Ergebnis in Bezug auf den gesteigerten Pastaverzehr. Komplett abwegig wäre ein solches Ergebnis nicht: Eine hochgewichtige und eine schwangere Frau eint ein zum betreffenden Zeitpunkt breite(re)s Becken, was immer wieder als Zeichen für Fruchtbarkeit erörtert wird. Sollte hier ein Urinstinkt zur Arterhaltung greifen, wäre es durchaus sinnvoll, wenn die Natur es so eingerichtet hätte, dass wir Lebensmittel mit höherem Kaloriengehalt bevorzugen, damit die Gruppe die Kraftreserven hat um die werdende Mutter zu versorgen und / oder zu verteidigen.
Doch kann sich ernsthaft jemand die Schlagzeile “Gefahr durch Essen mit schwangerer Begleitung” oder einen allgemeinen Aufruf Schwangere in Tischsituationen zu meiden vorstellen? Nein, zum Glück ist das vollkommen undenkbar. Das betreffende Blatt würde vermutlich 1/3 seiner Anzeigenkunden verlieren und in den sozialen Netzwerken zu Recht so unter Feuer geraten, dass wir es in den Nachrichten erfahren würden. Aber warum bleibt dieser gerechtfertigte Aufschrei aus, wenn zur Diskriminierung dicker Menschen aufgerufen wird?
Vielleicht liegt die Antwort ein Stück weit in der Schlagzeile “Dick sein steckt an” des Kölner Stadtanzeigers. Der dicke Mensch ist offensichtlich in den Augen vieler nicht Mensch. Er ist das Dicke: Unform und in diesem Fall Erreger. Dafür spricht zum Beispiel, dass dicke Menschen in den Medien fast immer ohne Kopf abgebildet werden. Es scheint so als würde es für unseren Exportschlager Menschenwürde in den USA und in Deutschland eine zunehmende Binnennachfrage geben.
Der Psychologe John de Castro [2] hat übrigens vor mehr als 10 Jahren schon darauf hingewiesen, dass der Mensch in Gruppen immer mehr isst als alleine. Sollte man also zu den Tischzeiten Menschen generell meiden?
Sie finden, das wäre nicht nur unter sozialen Aspekten kompletter Unsinn?
Wir sehen das genauso.
[1]
In good company. The effect of an eating companion’s appearance on food intake
Appetite, Ausgabe 83, 1. Dezember 2014, Seite 263–268
Mitsuru Shimizua, Katie Johnsonb und Brian Wansinkb
[2]
Eating Behavior: Lessons From the Real World of Humans
Nutrition 2000, Ausgabe 16, S. 800–813
John M. de Castro, Psychologe