Das Wort Behinderung ist in unserem Kulturkreis negativ assoziiert. Sätze wie “Bist Du behindert, oder was?”, ob nun als Teil der Jugendsprache oder der sozialen Parodie im Kontext der Comedy, tragen an uns immer wieder den Gedanken heran, dass Behinderung ausschließlich ein geistiges oder körperliches Defizit beschreibt. Die Klassifizierung eines hohen Körpergewichts als Behinderung lehnen folglich viele dicke Menschen ab. Sie sehen sich selbst nicht als hilfsbedürftig oder in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt und fürchten die Verstärkung der Stigmatisierung eines hohen Gewichts durch dieses Label.
Dieses Verständnis von Behinderung ist mehr als unglücklich. Es führt im Allgemeinen zu Distanz und Mitleid, was Menschen mit einer Behinderung ein im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten normales, voll integriertes Leben unmöglich macht.
Wir alle sind anders – jeder auf seine Art. Viele von uns haben nur das Glück, dass sie dennoch in den errechneten Durchschnitt fallen, der uns im Alltag nicht nur in Form von Treppen und Stühlen begegnet. Wenn wir uns das vor Augen führen und Behinderung damit weniger als “behindert sein” und mehr als “behindert werden” verstehen, wird es uns allen leichter fallen, unsere Unterschiede anzunehmen. Wir müssen uns davon verabschieden einen Behindertenparkplatz direkt vor der Bücherei als Sonderbehandlung wahrzunehmen und erkennen, was er ist: eine schlichte Notwendigkeit, genauso wie ein Kindersitz im Restaurant.
Vergleichbare Notwendigkeiten ergeben sich auch aus einem höherem Körpergewicht. Die Missachtung dieser Notwendigkeiten beschreibt die GgG e.V. als Gewichtsdiskriminierung, die sie wie folgt definiert: “Gewichtsdiskriminierung bezeichnet eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Benachteiligung aufgrund eines Körpergewichtes, das nicht im Bereich des medizinisch oder kulturell (Schönheitsideal) vorgegebenen Normalgewichts liegt. Sie umfasst alle Handlungen, die eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Personen mit von der Norm abweichendem Körpergewicht erschweren oder verhindern.”
Das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG Absch. 1 § 1) hätte unserer Meinung nach die Aufgabe, diese Form der Diskriminierung ebenfalls zu unterbinden, adressiert aber derzeit nur Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Ein hohes Gewicht müsste folglich den Status einer Behinderung erhalten, damit diese Form der Diskriminierung ebenfalls auf Basis des AGG unterbunden werden kann. Hierfür hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) am 18.12.2014 den Weg geebnet:
Urteil in der Rechtssache C-354/13
“Adipositas kann eine ‘Behinderung’ im Sinne der Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sein.
Zwar gibt es keinen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der als solcher Diskriminierungen wegen Adipositas verböte, doch fällt Adipositas unter den Begriff “Behinderung”, wenn sie unter bestimmten Bedingungen den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindert. Dabei spielt es keine Rolle, warum jemand dick geworden ist. Denn so heißt es in der Begründung des EuGH[…] “Außerdem widerspräche es dem Ziel der Richtlinie, wenn die Ursache der Behinderung für die Anwendung der Richtlinie von Bedeutung wäre.”
Diese Feststellung ist eine ganz entscheidende, denn der Klassifizierung eines hohen Gewichts als Behinderung stehen auch viele Menschen mit bereits anerkannter Behinderung skeptisch gegenüber, da sie Angst haben, ihren Status als unverschuldet in Not geratene Gruppe zu verlieren. Wenn die Schuldfrage aber keine Relevanz hat und wir die Behinderung nicht länger als Problem des Einzelnen, sondern als die gesellschaftliche Herausforderung betrachten, die sie ist, gibt es keinen Grund, dicken Menschen diesen Status nicht zuzusprechen.