Im Folgenden finden Sie unseren politischen Forderungskatalog für das Land Berlin, Stand 06.05.2018. In seiner ersten Version ist der Forderungskatalog am 29.01.2018 erschienen.
Gewichtsdiskriminierung vorbeugen und als bildungspolitische Aufgabe verstehen
Internationale Studien zeigen, dass Gewichtsdiskriminierung die mit Abstand häufigste Form von Diskriminierung an Schulen ist. Typische Auswirkungen, wie depressive Zustände, konnten bereits in der ersten Klasse nachgewiesen werden. Das Thema soll daher in den Rahmenlehrplänen des Landes Berlin in hierfür geeigneten Kontexten wie Diskriminierung, Schönheitsideal und Diversität aufgegriffen werden. Gewicht muss dabei explizit als Merkmal benannt werden, da bei Formulierung wie “Diskriminierungsformen in unserer Gesellschaft”, die im Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I Verwendung findet, Gewicht in der Regel nicht mitgedacht wird. Darüber hinaus soll die Sensibilisierung für Gewichtsdiskriminierung Teil der Ausbildung und Fortbildung der Lehrer*innen sein.
Förderung eines körperpositiven und diversen Bibliotheksbestands
Der dicke Mensch wird in der Literatur häufig als defizitär dargestellt oder gänzlich ausgeklammert. Sein Gewicht begrenzt die Rollen, die er einnehmen kann, in hohem Maße. Bereits in Kinderbüchern lassen sich stereotype Darstellungen finden, die ein fruchtbarer Boden für Gewichtsdiskriminierung sind. Da die Bibliotheken eigenverantwortlich ihren Buchbestand gestalten, sollen vom Land Berlin finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, die an den Zweck gebunden sind, dass Titel aufgenommen werden, die ein positives Körperbild fördern. Ein besonderer Schwerpunkt soll dabei im Bereich der Kinderbücher gesetzt werden. Ziel ist es, dass verstärkt Bücher Teil des Bibliotheksbestandes werden, die Gewichtsvielfalt zeigen und den Vorurteilen entgegenwirken, die mit einem hohen Körpergewicht verknüpft sind.
Anonymisierte Bewerbungsverfahren für die Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst
Ein Foto im Lebenslauf senkt die Chancen hochgewichtiger Menschen, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, signifikant. Das zeigt eine Studie der Universität Tübingen, für die 127 Personalentscheider*innen befragt wurden. Dicke Frauen schnitten hier besonders schlecht ab: 98 Prozent der Befragten trauten ihnen keine prestigeträchtigen Berufe wie Ärztin oder Architektin zu. Hochgewichtige Menschen profitieren damit von einer anonymisierten Bewerbung insofern, dass sie in der Vorauswahl für ein Bewerbungsgespräch nicht aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes aussortiert werden. Das von März 2014 bis März 2015 im Rahmen des Berliner Pilotprojekts Vielfalt fördern – anonym bewerben getestete Verfahren der anonymisierten Bewerbung soll daher in der Verwaltung und den Landesbetrieben schrittweise flächendeckend eingeführt werden.
Der Stigmatisierung des dicken Körpers im Kontext von Prävention entgegenwirken, Health-at-Every-Size-(HAES)-Ansätze fördern
Maßnahmen mit dem Fokus “gesunde Ernährung” erfolgen in der Regel im Kontext der Prävention von “Übergewicht” und Adipositas. Dem liegt der Gedanke zugrunde, eine gesunde Ernährung führe automatisch zu einem dünnen Körper, da dieser in unserer Gesellschaft mit „gesund“ gleichgesetzt wird. Diese Annahme ignoriert Gewichtsvielfalt als Teil der menschlichen Diversität und führt zu einer pauschalen Pathologisierung des dicken Körpers. Dicke Kinder und Jugendliche sehen sich daher früh einer starken Ablehnung durch Gleichaltrige gegenüber und mit dem Vorurteil konfrontiert, ihr Dicksein sei ein Defizit sowie ein Zeichen mangelnder Ernährungsbildung und Willenskraft. Der Stigmatisierung des dicken Körpers durch die ausschließliche Gleichsetzung von „dünn“ mit „gesund“ muss hier entschlossen entgegengewirkt werden. Kurzfristig sollen Mitglieder für die Landesgesundheitskonferenz berufen werden, die einen Health-At-Every-Size-(HAES)-Ansatz vertreten. Langfristig soll von der zuständigen Senatsverwaltung ein Aktionsprogramm entwickelt werden, das eine körperpositive Entwicklung fördert, Gewichtsvielfalt als Teil der menschlichen Diversität begreift und Gewichtsdiskriminierung entgegenwirkt.
Erleichterung der Verbeamtung für Menschen mit hohem Körpergewicht, Sensibilisierung der Ärzteschaft für Gewichtsdiskriminierung
Bei der Verbeamtung erfolgt die Ernennung gemäß Art. 33 Abs. 2 GG nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Als ungeeignet gilt u.a., wer mit überwiegender Wahrscheinlichkeit etliche Jahre vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze dienstunfähig werden wird. Hochgewichtige Ver-beamtungskandidatinnen und -kandidaten erhalten nach der amtsärztlichen Untersuchung häufig einen negativen Bescheid, obwohl dieser seit einem richtungsweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2013 vor Gericht de facto keinen Bestand mehr hat (vgl. Liebenstein 2017, S. 12 ff.). Auf Seiten der Amtsanwärter*innen muss die Verbeamtung dennoch häufig erst gerichtlich erstritten werden, was eine hohe Hürde darstellt.
Die Prävention von Diskriminierung wird weder vom Berliner Kammergesetz noch von der Weiterbildungsordnung der Berliner Ärztekammer explizit adressiert. Kurzfristig sollte dieser institutionellen Benachteiligung daher durch eine verpflichtende interne Weiterbildung der Amtsärztinnen und -ärzte entgegengewirkt werden, die von den Gesundheitsämtern der Bezirke veranlasst wird. Die Maßnahme sollte dabei sowohl eine Sensibilisierung für Gewichtdiskriminierung in Form eines Fallseminars als auch eine Vermittlung der aktuellen rechtlichen Lage umfassen. Langfristig sollte eine Sensibilisierung der Ärzteschaft für Diskriminierung, insbesondere die anhand des Gewichts, im Bereich der gesundheitlichen Versorgung gesetzlich festgeschrieben werden, beispielsweise im Kammergesetz als weitere Aufgabe oder Vorgabe für die Berufsordnung.
Abkehr vom Body Mass Index (BMI) als Gesundheitsindikator
Der BMI lässt weder einen Schluss über die Körperfettverteilung noch über den Anteil der Muskelmasse oder die generelle Kondition der betreffenden Person zu. Seine Aussagekraft als Gesundheitsindikator ist in der Fachwelt stark umstritten. Aktuell wird er beispielsweise im Rahmen der Gesundheits-berichterstattung des Landes Berlin bei Kindern zum Zeitpunkt der Einschulungsuntersuchungen eingesetzt. Aufgrund seines zweifelhaften Nutzens soll er keine weitere Verwendung als Gesundheitsindikator finden.
Gewährleistung der Mobilität hochgewichtiger Menschen im Nahbereich
Breite Gänge und geeignete Sitzmöglichkeiten sind ein entscheidender Faktor dafür, dass hochgewichtige Menschen den öffentlichen Personennahverkehr uneingeschränkt nutzen können. Armlehnen, die nicht hochgeklappt werden können, Ritzen oder Giebel, wie sie sich beispielsweise zwischen Kunststoffschalensitzen ergeben, können ein schmerzhaftes Hindernis darstellen. In § 8 Abs. 3 des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) ist die Berücksichtigung der “Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen” festgeschrieben. “Ziel [ist es] bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.” Die Formulierung ist dazu geeignet, die Bedürfnisse hochgewichtiger Menschen in Bezug auf Gang- und Sitzplatzgestaltung zu umfassen, doch bisher ist diese Personengruppe mit dem Begriff der Barrierefreiheit nicht assoziiert. Die Gruppe sowie ihre Bedürfnisse sollten daher im detaillierten Nahverkehrsplan des Landes Berlin explizit genannt werden.
Erweiterung der Vorschriften zur Barrierefreiheit der Landesbauordnung zur Sicherstellung einer für hochgewichtige Menschen geeigneten Raumsituation
Bei der Planung von öffentlichen Gebäuden und Gewerbebauten werden die Bedürfnisse von hochgewichtigen Menschen häufig nicht bedacht. So werden beispielsweise zu enge Durchgänge und unzureichend belastbares oder einengendes Mobiliar vorgesehen. Die Barrierefreiheit für hochgewichtige Menschen soll durch eine entsprechende Erweiterung der Landesbauordnung und der zugehörigen Informationsmaterialien sichergestellt werden. Sollte sich in den betreffenden Dokumenten ein Bezug zu DIN 18 040 finden, so ist seitens der zuständigen Behörden ein entsprechender Antrag zur Aktualisierung der DIN-Norm für barrierefreies Bauen einzubringen.
Unterbindung von gewichtsdiskriminierender Werbung auf den bezirkseigenen Werbeflächen
Auf Bezirksebene liegen Beschlüsse vor, “diskriminierende, frauenfeindliche und sexistische Außenwerbung” auf den bezirkseigenen Flächen zu unterbinden. Da in den laufenden Werbeverträgen entsprechende Vergabebedingungen fehlen, sind die Bezirke bisher auf die Kooperation der Vertragspartner angewiesen. Der Begriff “diskriminierend” wird hierbei als Beschreibung der Form und nicht als Sammelbegriff verwendet, insofern ist eine Diskriminierung anhand von Gewicht nur da berücksichtigt, wo diese ausdrücklich benannt wird. Im Beschluss des Bezirks Mitte (Drucksache 0153/V) ist dies für den Punkt “Werbung darf Aufstachelung zum Hass […] weder aufweisen, noch billigen, fördern oder verherrlichen” der Fall. Die Unterbindung einer unverhältnismäßig stark abwertenden oder stereotypen Darstellung von dicken Menschen oder Körpern wird über diesen Punkt allerdings nur schwerlich möglich sein.
In unserer Gesellschaft ist Schönheit als Aufgabe in der Geschlechterrolle von Frauen verankert. Aufgrund des schlanken Schönheitsideals sind Frauen daher in besonders hohem Maße von Gewichtsdiskriminierung betroffen. Geschlecht ist damit ein relevanter Faktor, aber nicht das Merkmal, anhand dessen die Diskriminierung erfolgt. Der bisherige Beschluss spitz diskriminierende Werbung auf das Merkmal Geschlecht zu und inkludiert punktuell weitere Merkmale. Um Gewichtsdiskriminierung vollumfänglich zu adressieren, muss diskriminierende Werbung als Ganzes adressiert und dabei Gewichtsdiskriminierung ausdrücklich inkludiert werden. Das Land Berlin hat seine Werbeverträge gekündigt. Diese laufen im Wesentlichen zum 01.01.2019 aus. Laut Koalitionsvertrag soll der Ausschluss von sexistischer Werbung und diskriminierenden Inhalten eine harte Vergabebedingung in den Neuverträgen werden. Dieser Neustart bietet die Möglichkeit, die bestehenden Lücken sowohl inhaltlich als auch in der Fläche zu schließen.
Gewichtsvielfalt als Teil von Diversity verstehen und kommunizieren
Die aktuellen Diversity-Ansätze des Berliner Senats, wie das Netzwerk Vielfalt und Chancengleichheit und das Berliner Diversometer, berücksichtigen das Merkmal Gewicht nicht. Sie sollen entsprechend erweitert werden. Darüber hinaus soll das Land Berlin, insbesondere in Form der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS) zum Botschafter dieses erweiterten Verständnisses von Diversity werden:
- Als Mitglied der Charta der Vielfalt hat das Land Berlin die Möglichkeit, die inhaltliche Ausrichtung über die Mitgliederversammlung mitzugestalten und eine entsprechende Erweiterung der Charta anzuregen.
- Über die von ihr ausgerichteten Fachveranstaltungen und Informationsmaterialien bestimmt die LADS das Verständnis von Diversity im größeren Berliner Raum und mittels ihres Netzwerks darüber hinaus.
Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der Landesantidiskriminierungsstelle (LADS) um Diskriminierung anhand von Gewicht
Die Einrichtung der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung ist laut Drucksache 16/0414 auf Basis von §25 AGG erfolgt. Damit ist die Zuständigkeit der Landesantidiskriminierungsstelle auf die sechs im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) genannten Diskriminierungsmerkmale beschränkt. Für das Merkmal Gewicht ist seitens des Bundes im AGG kein Diskriminierungsschutz vorgesehen worden. Damit Gewichtsdiskriminierung auf Landesebene entgegengewirkt werden kann, soll eine Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der Landestelle im Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) festgeschrieben werden.
Erweiterung des Geltungsbereichs des Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) um das Merkmal Gewicht
Körpergewicht ist ein personenbezogenes Merkmal mit starker Prägungskraft, das sich aufgrund seiner großen Bandbreite unter keins der im LADG genannten Merkmale vollständig subsumieren lässt. Um diese Lücke im Diskriminierungsschutz zu schließen, muss Gewicht in § 1 Abs. 2 aufgenommen werden. Der weiter gefasste Begriff des „körperlichen Erscheinungsbildes“, der u.a. in Belgien und Frankreich Verwendung findet, hat sich für Fälle von Gewichtsdiskriminierung nicht bewährt. Gewicht wurde in diesem Zusammenhang nicht als “unveränderliche Eigenschaft” anerkannt, sondern als Ergebnis des “individuellen Willens einer Person” gewertet, weshalb Klagen mit Gewichtsbezug, die sich auf das Diskriminierungsmerkmal „körperliches Erscheinungsbild“ beriefen, bislang scheiterten.