Vorurteile / Überholte Fakten

– Dicke essen zu viel und bewegen sich zu wenig
Immer noch herrscht die Fehleinschätzung vor, dass Körpergewicht sei eine unmittelbare Folge einer unausgeglichenen Energiebilanz, also das Ergebnis von zu wenig Bewegung auf der einen und zu viel Ernährung auf der anderen Seite.  Diese Gleichung wurde wiederholt in Frage gestellt und durch diverse Experimente widerlegt. Das Ergebnis dieser Experimente ist die Set-Point-Theorie, der zufolge sich der Körper Mast- und Reduktionsdiäten gleichermaßen flexibel anpasst, indem er den Energieverbrauch im Ruhezustand anhebt bzw. absenkt. Die Theorie deckte sich mit der milliardenfachen Erfahrung von Diätenden, denen es nicht gelang, den kurzfristigen Erfolg ihrer Diätbemühungen langfristig zu stabilisieren. Zwar gibt es schon seit den 1920er Jahren Zwillingsstudien, die genetische Ursachen für Adipositas wahrscheinlich erschienen lassen, doch diese Befunde wurden durch den Mainstream der medizinischen Forschung und Behandlung von Adipositas lange Zeit ignoriert. Erst in den 1980er Jahren wurden sie durch neue groß angelegte Zwillingsstudien bestätigt. In jüngster Zeit konnten mit Hilfe neuer Methoden Genvarianten gefunden worden, bei denen ein Zusammenhang zum Körpergewicht nachgewiesen scheint. Obwohl es heute einen sehr weitgehenden Konsens in der Fachöffentlichkeit dahingehend gibt, dass das Körpergewicht zu weiten Teilen genetisch bestimmt ist, führt dies nicht automatisch zu einer Entlastung der Betroffenen. Denn in der öffentlichen Debatte wird dieser Umstand größtenteils ignoriert.
– BMI: Kein Maß zur Bestimmung der Gesundheit
Der BMI sagt nichts darüber aus, wie gesund bzw. wie ungesund eine Person lebt. Der BMI ist ein Maß zur Bestimmung des relativen Körpergewichts. Also des Körpergewichts im Verhältnis zur Körpergröße, nicht weniger aber eben auch nicht mehr.
– Es gibt einen Unterschied zwischen dem absoluten und dem relativen Risiko
Häufig ist in Studien von einem um 20, 50, 100 oder gar 200 Prozent erhöhten Risikos für bestimmte Krankheiten aufgrund eines erhöhten Körpergewichts die Rede. Angaben darüber, wie hoch das absolute Risiko für eine Krankheit ist, fehlen in solchen Meldungen oft völlig. Einmal abgesehen von der Frage, wie seriös die Studien sind, die ein solches erhöhtes Risiko behaupten, zeigt bereits ein Blick auf das absolute Risiko für eine Krankheit, wie relevant das Risiko für die Betroffenen tatsächlich ist. Wenn eine Krankheit X nur in 5 von einer Millionen Fälle auftritt, dann bedeutet ein um 100 Prozent erhöhtes Risiko, dass die Krankheit bei Trägern des Risikofaktors in 10 von einer Millionen Fälle auftritt. 100 Prozent klingt viel, häufig handelt es sich aber in absoluten Zahlen um ein sehr geringes absolutes Risiko.
– Korrelationen sind keine Kausalitäten
Statistisch nachweisbare Zusammenhänge zwischen dem relativen Körpergewicht und bestimmten Krankheiten bedeuten nicht automatisch, dass hier ein Ursache-Wirkungsprinzip vorliegt. Ein erhöhtes Körpergewicht kann selbst ein Symptom einer Krankheit sein und nicht deren Ursache. Ein statistisch beobachteter Zusammenhang zwischen einem hohen BMI-Wert und dem Auftreten von bestimmten Krankheiten muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Gewicht ursächlich für diesen Zusammenhang ist. Andere Faktoren, die ebenfalls mit einem höheren Körpergewicht in Zusammenhang stehen, die also statistisch gesehen ebenfalls häufiger bei dicken Menschen auftreten (etwa Einkommensarmut, oder ein höheres Lebensalter) können ursächlich für den beobachteten Zusammenhang sein.
– Nicht das Gewicht, sondern die Diskriminierung wegen des Gewichts macht krank
Vieles spricht dafür, dass nicht das Körpergewicht selbst, sondern die Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts krank macht. In Gesellschaften, in denen Menschen mit einem hohen Körpergewicht gleich oder besser behandelt werden als dünne Menschen, werden dicke Menschen wesentlich seltener krank als in Gesellschaften, in denen ein hohes Köpergewicht gesellschaftlich sanktioniert wird. Diese Sanktionierung des Körpergewichts vollzieht sich auf vielfältige Weise. Zum einen führt Gewichtsdiskriminierung zu einer geringeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, weil dicke Menschen- leider oft zurecht – Angst vor einer Zurückweisung durch das ärztliches Personal haben. Gewichtsdiskriminierung provoziert problematisches Essverhalten, da lustvolles Essen in der Öffentlichkeit aber häufig auch im Familienkreis sanktioniert und damit tabuisiert wird. Auf diese Weise kann Gewichtsdiskriminierung mit dazu beitragen, Essstörungen auszulösen. Gewichtsdiskriminierung erschwert es dicken Menschen auch, sich in der Öffentlichkeit sportlich zu betätigen. Insgesamt erschwert Gewichtsdiskriminierung sozialen Aufstieg und soziale Anerkennung und trägt damit auf vielfältige Weise dazu bei, dass dicke Menschen physisch und psychisch krank werden. Zwar bilden die Extrembereiche beim Körpergewicht sowohl im niedrigen als auch im hohen BMI-Bereich bisweilen ein unabhängiges Gesundheitsrisiko, allerdings gibt es keine festen BMI-Wert, der für alle Menschen ein prinzipielles gesundheitliches Risiko markieren würde.