Der Anti-Diät-Tag wurde 1992 von der britischen Aktivistin Mary Evans Young ins Leben gerufen. Young litt an Anorexie. Nach ihrer Genesung gründete sie die Aktionsgruppe “Diet Breaker” und setzte sich gegen Diäten und für Gewichts- und Körpervielfalt ein. Heute ist der Anti-Diät-Tag weltweit Anlass auf die negativen psychischen und physischen Folgen von Gewichtsdiskriminierung hinzuweisen und für mehr Toleranz zu werben. Am 24. Geburtstag des Anti-Diät-Tags dem 6. Mai 2015 beginnt auch der 22. Europäische Adipositas-Kongress in Prag. Zu diesem Anlass hat die Europäische Sektion der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Pressmitteilung verfasst, in der sie behauptet, die Europäer würden immer dicker, bald gäbe es fast keine “Normalgewichtigen” mehr und auch der Anteil der “krankhaft Fettleibigen” werde weiter steigen. Schuld daran hätten Fastfood und zu wenig Bewegung.
So weit so klischeehaft. Die Realität ist deutlich komplexer. Doch das scheint die WHO nicht zu interessieren. Denn die WHO ignoriert konsequent, dass immer mehr Studien feststellen, dass ein BMI im Bereich 25-30, der von der WHO als “Übergewicht” klassifiziert wird, tatsächlich das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung ist und auch die “moderate Adipositas” (BMI 30-35) im Vergleich zum “Normalgewicht” (BMI 18,5-25) keine Verkürzung der Lebenserwartung zur Folge hat. Es nutzt auch nichts, dass Prognosen, die schon vor fünf oder gar vor zehn Jahren Szenarien entwarfen, wie viele Menschen künftig “übergewichtig” oder “adipös” sein werden, von der Realität längst widerlegt wurden. In einer renommierten Fachzeitschrift stand noch 2008 zu lesen, dass im Jahr 2048 alle US-Amerikaner/innen einen BMI größer 25 und zum Ende des 21. Jahrhunderts alle US-Amerikaner/innen einen BMI größer 30 aufweisen werden. Tatsächlich stagniert der Anteil der US-Amerikaner/innen mit den entsprechenden BMI-Werten seit der Jahrtausendwende. Bei den Kleinkindern wurde zuletzt sogar ein deutlicher Rückgang festgestellt.
In einem Bericht der britische Regierung wurde noch 2007 behauptet, dass sich der Anteil der britischen Bevölkerung mit einem BMI größer 30 bis 2050 mehr als verdoppeln werde. Bei den Kindern werde der Anstieg noch dramatischer ausfallen. Tatsächlich stagniert der Anteil der Menschen mit einem BMI größer 30 im Vereinigten Königreich seit Jahren. Und auch die Minderjährigen nehmen nicht weiter zu – im Gegenteil. In den meisten Staaten der Europäischen Union, die über solide Daten verfügen, ist ein ähnlicher Trend feststellbar. Gerade bei Kindern zeigen die jüngeren Daten in fast allen Industrieländern einschließlich Deutschland einen Rückgang. Woher die Europasektion der WHO nun die Gewissheit nimmt, dass in den nächsten zwanzig Jahren eine kollektive Gewichtszunahme bevor steht, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Eine Studie, mit der Sie die Berechnung untermauern könnte, liegt bislang nicht vor. Doch die Organisation hat offenbar aus früheren Prognosedebakeln gelernt und räumt sicherheitshalber schon mal ein, dass die Zahlen aus ihrer Hochrechnung “mit großer Vorsicht” interpretiert werden müssten. Natürlich warnt man trotzdem schon mal vor einer “beunruhigenden Perspektive” für Europa. Politische Maßnahmen seien dringend notwendig, um diese Tendenz umzukehren.
Und hier kommen wir zum eigentlichen Grund für die unseriösen Rechenspielchen. Man will die eigene politische Agenda durchsetzen und der eigenen Organisation so zu mehr gesellschaftlicher Relevanz verhelfen. Dafür nimmt die WHO in Kauf, dass dies auf dem Rücken dicker Menschen geschieht, in dem sie Ängste vor einer “Übergewichts-Epidemie” schürt. In den Medien wurde die Pressemitteilung der WHO dann auch wieder einmal mit diskriminierenden Slogans wie “Europa verfettet” betitelt und durchgängig mit “headeless fatties” illustriert: mit Bildern von dicken Menschen also, auf denen nicht ihr Gesicht, sondern nur die problematisierten Körperteile zu sehen sind. Dass sich eine gemeinnützige Organisation, die sich der globalen Gesundheit verschrieben hat, ausgerechnet den Anti-Diät-Tag für die Veröffentlichung ihrer gewichtsdiskriminierenden und damit letztlich auch gesundheitsschädigenden Zahlenspiele ausgesucht hat, ist besonders ärgerlich. Es zeigt aber auch, wie wichtig die Arbeit von Gruppen wie der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung ist.